Das Buch
Uwe Wittstock präsentiert seine Kolumnen vom Familienplaneten:
Nachrichten aus dem Weltall, vom fernen und doch so nahen Familienplaneten.
Komisch, erstaunlich und manchmal verzweifelt wird der Alltag mit
drei Kindern geschildert – der ganz normale Wahnsinn eben.
Denn nur Unwissende glauben, Kinder würden von ihren Eltern lernen;
in Wirklichkeit lernen die Eltern, und zwar Dinge, die sie noch nie
wissen wollten. Die Namen der Bandmitglieder von Bro’Sis, die
genaue Zusammensetzung des Pyro Pack 300 oder wozu Backstage-Ausweise
wirklich da sind. Allen Eltern und künftigen Eltern sei also
diese Lektüre wärmstens empfohlen: Hier erfahren Sie die
Dinge, die wirklich zählen im Leben mit Kindern!
Der Autor
Uwe Wittstock, 1955 in Leipzig geboren, war von 1980 bis 1989 unter
der Ägide von Marcel Reich-Ranicki Literaturredakteur der »Frankfurter
Allgemeinen Zeitung«. Danach arbeitete er als Lektor im S. Fischer
Verlag. Heute ist der Theodor-Wolff-Preisträger Kulturkorrespondent
für »Die Welt«.
Besuchen Sie auch seine Website:
www.uwe-wittstock.de
Lieferbare Titel
Marcel Reich-Ranicki
Worum geht’s hier eigentlich?
Hartnäckige Gerüchte besagen, Eltern setzten Kinder in
die Welt. Das stimmt natürlich nicht. Vielmehr sind es die Kinder,
die ihre Eltern in eine neue, seltsame Welt versetzen. Auf den Familienplaneten.
Auf diesem fremdartigen Gestirn ist alles anders, geheimnisvoll und
unfassbar. Die zuvor kinder- und deshalb komplett ahnungslosen Erwachsenen
stoßen hier auf so erstaunliche Erscheinungen wie Pubertätskrisen,
Super-Soaker, Elternabende, Bro’Sis oder diese rutschigen kleinen
Legosteine auf der obersten Treppenstufe.
Auf dem speziellen Familienplaneten, auf den es Annette und mich verschlagen
hat, leben Nicolas, Marten und Lennart. Um diese drei und ihre unheimlichen
Begegnungen der alltäglichen Art geht es in den folgenden Geschichten.
Ein wenig geht es auch um Annette und mich, so weit die drei in den
Geschichten Platz für uns gelassen haben. Das tun sie allerdings
selten, denn Lennart ist jetzt sechs Jahre alt, Marten ist neun und
Nicolas zwölf, und in diesem Alter sind die Kinder recht raumgreifend.
Ungefähr so raumgreifend wie in der Zeit davor und danach.
Die Geschichten erscheinen in ein wenig anderer Form zuerst als Kolumne
in der »Welt«. Ich wollte mit ihnen gern Nachrichten aussenden
an Nachbargestirne, um mitzuteilen, wie das Leben auf unserem Planeten
aussieht. Es ist, glaube ich, ganz anders und ganz genauso wie auf
allen Familienplaneten.
(Seiten 9-10.)
Hohn und Gedächtnis
Ja gut, ich gebe es zu, manchmal, wenn’s hektisch wird, verwechsle
ich die Namen der Kinder: Lennart stellt in unserm Wildkirschbaum
Kletterrekorde auf, die Reinhold Messner erblassen ließen, und
ich flehe von unten: »Nicolas, bitte, komm runter.« Lennart
winkt dann, ruft »Ich heiße Lennart« und hievt sich
noch zwei dürre Ästchen höher. Oder Marten hämmert
am Klavier Heho! runter, dass Motörhead dagegen klingt wie Kammermusik,
und ich brülle »Lennart, langsamer«, worauf Lennart
im Flur auf der Treppe zusammenzuckt und in Zeitlupe weiter nach oben
steigt. Oder Nicolas knallt mir wieder mal mitten in einem erzieherischen
Vortrag die Zimmertür vor der Nase zu, ich reiße sie sofort
wieder auf, fixiere ihn stahlhart und beginne die Strafpredigt mit
den schönen Worten: »LeMartOlas…Äh.«
»Lemartolas?«, fragt Annette. »Haben wir noch ein
Kind, von dem ich nichts weiß?«
Sicher, Verwechslungen sind lästig, aber offen gestanden, ich
finde solche kleinen Fehler nicht so schlimm. Eher liebenswert. Überhaupt,
ich finde meine Fehler nie besonders schlimm, immer sind es die anderen,
die sich drüber aufregen. Niemand kann alles im Kopf haben, jeder
vergisst mal was. Sogar Annette. Sie vergisst zum Beispiel sehr oft,
dass ich Literaturkritiker bin und sehr beschäftigt und sausensibel
und mich in Gedanken immer mit irgendwelchen bedeutenden kulturellen
Fragen rumschlage. »Was schreibt Handke gerade? Wie geht’s
Suhrkamp? Wann sollte ich gleich die nächste Rezension abliefern?«
Bei Problemen solchen Kalibers wird man doch wohl mal Namen verwechseln
dürfen. Neulich Abend zum Beispiel, nachdem ich den Kindern vorm
Einschlafen wieder aus Huckleberry Finn vorgelesen hatte, war ich
mental noch ganz bei Mark Twain, als ich Lennart zudeckte, seine Stirn
küsste und flüsterte: »Schlaf gut, Marten.«
Er lächelte: »Mein Name ist Lennart.«
»Weiß ich doch«, sagte ich.
Marten hatte sich schon in seinem Bett zusammengerollt, setzte sich
aber noch mal auf und schüttelte mir sehr förmlich die Hand:
»Guten Abend, mein Name ist Marten.«
»Weiß ich doch«, sagte ich.
Nicolas schrie aus seinem Zimmer: »Mein Name ist Peter Handke
«
»Weiß ich doch«, sagte ich.
Letztes Wochenende dann, beim Einkaufen, trafen wir zufällig
auf das Gedächtnis-Mobil der Stadt: Ein Bus, bemalt mit hypnotischen
Augen, umschwärmt von freundlichen Leuten, die eifrig Flugblätter
verteilten, dazu Broschüren oder bunte Aufkleber mit hypnotischen
Augen und der anmutigen Aufschrift: »Keine Angst vor Alzheimer«.
Annette war sofort begeistert.
»Das Gedächtnis kann man nämlich trainieren«,
sagte sie. »Es gibt da Kurse. Wäre doch gut, damit du die
Kinder nicht mehr verwechselst.«
»Ich kann mich nicht erinnern«, protestierte ich panisch,
»jemals Kinder verwechselt zu haben. Höchstens Namen.«
Annette schnappte sich den nächsten besten Gedächtnis-Mobilisten:
»Hilft Gedächtnistraining auch gegen Verwechslungen?«
»Möglich«, nuschelte der Mann, »ich weiß
nicht. Ich bin vom 'Arbeitskreis Demenz'. Für Gedächtnistraining
ist das 'Zentrum für Zerstreutheit' zuständig. Glaub ich.«
»Es geht«, präzisierte Annette, »um das Verwechseln
von Namen.«
»Na ja«, meinte der Mann, »kommt vor. Ich verwechsle
öfter mal die Namen meiner Kinder.« Der Mann war wirklich
ungemein sympathisch. »Ich finde das ja nicht so schlimm, aber
meine Frau …« Der Mann schaute sich kurz um und schwitzte.
Annette blickte streng: »Ihre Kinder? Wie viele haben Sie denn?«
»Eins, warum?« Er schwitzte stärker, sein Blick flackerte.
»Glauben Sie etwa, ich wüsste nicht, wie viele Kinder ich
habe?«
»Wie können Sie denn«, schüttelte Annette den
Kopf, »Namen vertauschen, bei nur einem Kind?«
»Nein«, stieß der Mann hervor, »es sind zwei!
Oder drei? Weiß nicht, keine Ahnung. Kann man ja mal vergessen.«
Er begann zu zittern, stöhnte und lehnte sich mit dem Rücken
an den Bus, die hypnotischen Augen starrten rechts und links über
seinen Schultern. »Sagen Sie es nicht meiner Frau. Bitte.«
Ein Kollege nahm ihn behutsam am Arm, führte ihn zu einem Stuhl
und wandte sich uns zu: »Unser Walter«, lächelte
er. »Der fühlt sich heute nicht so. Kann ich was für
Sie tun? «
»Franz«, kreischte der Mann aus dem Hintergrund und bäumte
sich vom Stuhl hoch, »ich heiße Franz, das weiß
ich genau! Ich bin nicht Walter, du verwechselst mich.«
Annette zog mich am Ärmel weg von den beiden: »Was für
ein schräger Laden«, brummte sie, »vergiss ihn.«
»Mach ich«, sagte ich, »klar doch.«
(Seiten 43-46.)