"Ich versteh dich nicht", sagte sie, "sowas von Gleichgültigkeit
versteh ich einfach nicht. Als wär's nicht deine Tochter, dein
Fleisch und Blut da oben." Sie spreizte den Zeigefinger von der
Faust und deutete auf die Zimmerdecke. Aufregung fleckte ihr großes
freundliches Gesicht. Sie ließ die rechte Hand wieder fallen,
schob den braunen Wollsocken unruhig übers Stopfei. Gegenüber
knisterte die Wand der Zeitung. Sie starrte seine kurzen festen Finger
an, die sich am Rand ins Papier krampften: fette Krallen, mehr war
nicht von ihm da, keine Augen, kein Mund. Sie rieb die Fingerkuppe
über die Wollrunzeln.
"Denk doch mal nach", sagte sie. "Was sie da oben vielleicht
jetzt treiben. Man könnt meinen, du hättest deine eigene
Jugend vergessen. "
Seine Jugend? Der fremde freche junge Mann; es schien ihr, als hätten
seine komischen dreisten Wünsche sie nie berührt. Sie starrte
die fleischigen Krallenpaare an und fühlte sich merkwürdig
losgelöst. Es machte ihr Mühe, sich Laurela vorzustellen,
da oben, über ihnen, mit diesem netten, wirklich netten und sogar
hübschen und auch höflichen jungen Mann, diesem Herrn Fetter
ach, war es überhaupt ein Vergnügen für Frauen? Sie
seufzte, ihr Blick bedachte die Krallen mit Vorwurf. Richtige Opferlämmer
sind Frauen.
"Ich versteh's nicht", sagte sie, "deine eigene Tochter,
wirklich, ich versteh's nicht."
Der Schirm bedruckter Seiten tuschelte.
"Nein, ich versteh's nicht." Ihr Ton war jetzt werbendes
Gejammer. Wenn man nur darüber reden könnte. Sich an irgendwas
erinnern. Sie kam sich so leer und verlassen vor. Auf den geräumigen
Flächen ihres Gesichtes spürte sie die gepünktelte
Erregung heiß. Er knüllte die Zeitung hin, sein feistes
viereckiges Gesicht erschien.
"Na was denn, was denn, Herrgott noch mal, du stellst dich an",
sagte er.
Sie roch den warmen Atem seines Biers und der gebratenen Zwiebeln,
mit denen sie ihm sein Stück Fleisch geschmückt hatte. Sie
nahm den Socken, bündelte die Wolle unterm Stopfei in der heißen
Faust. Nein: das hatte mit den paar ausgeblichenen Bildern von damals
überhaupt nichts mehr zu tun.
"Na, weißt du", sagte sie, "als wärst du
nie jung gewesen." Sie lächelte steif, schwitzend zu ihm
hin.
Er hob wieder die Zeitung vors Gesicht: Abendversteck. Jung? Sein
Hirn schweifte gemächlich zurück. Jung? Und wie. Alles zu
seiner Zeit. Er rülpste Zufriedenheit aus dem prallen Stück
Bauch überm Gürtel, Kein Grund zur Klage. Richtige Hühner,
die Frauen, ewiges Gegacker. Er spähte über die Zeitung
in ihr hilfloses redseliges Gesicht: mit wem könnte sie quasseln
und rumpoussieren, wenn Laurela erst mal weg wäre? Er stand rasch
auf, drehte das Radio an. Die Musik schreckte das Wohnzimmer aus seinem
bräunlichen Dösen.
Sie sah ihm zu, wie er zum Sessel zurückging, die Zeitung aufnahm,
sich setzte. Sie lehnte sich ins Polster, presste das Stopfei gegen
den Magen. Das war ihr Abend, gewiss, er und sie hier unten, sie mussten
warten, das war von jetzt an alles. Und oben Laurela. O Laurelas Haar.
Sie lächelte. Kein Wunder, dass sie ihr nachliefen. Sie wollte
nachher noch anfangen mit dem blauen Kleid, ganz eng unterm Busen,
das hob ihn so richtig in die Höhe. Das Blau passte gut zum Haar.
So hübsches Haar. Wenn es goldene Seide gäbe, sähe
sie aus wie Laurelas Haar. Sie räusperte sich, hörte das
pappende Geräusch ihrer Lippen, saß mit offenem Mund, starrte
die Zeitung an, die fetten kräftigen Krallen rechts und links.
"Sie hat hübsches Haar", sagte sie. "Wie Seide,
wie Gold."
Er schnickte die Seiten in ihre gekniffte Form zurück.
"Na klar", sagte er.
Sie sah die Krallenpfoten zum Bierglas tappen und es packen. Sie hörte
ihn schmatzen, schlucken. So schönes goldenes Haar. Sie bohrte
die Spitze der Stopfnadel in den braunen Wollfilz. Seine und ihre
Tochter. Sie betrachtete die geätzte Haut ihres Zeigefingers.
Seine und ihre Tochter. Sie reckte sich in einem warmen Anschwellen
von Mitleid und stolzer Verwunderung.
Quelle: Gabriele Wohmann: Schönes goldenes Haar.
In: Ländliches Fest. Luchterhand (SL 204).
Darmstadt und Neuwied. 6. Auflage 1980, S. 44/45