Burghard Spinnen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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  2013.    
 

Burkhard Spinnen: Belgische Riesen
(Auszug aus dem Roman)

   
 

Konrad kommt rein

Die Tür geht auf.
»Übrigens«, sagt Konrad, »draußen ist es total hell. «
Im Schlafzimmer ist es jetzt auch ziemlich hell, weil Licht vom Flur hereinkommt, und daher kann Konrad sehr gut beobachten, wie einer der beiden Menschen, die in dem großen Bett liegen, sich blitzschnell die Decke über den Kopf zieht. Dabei sagt dieser Mensch etwas Unanständiges, das Konrad niemals sagen dürfte.
Dieser Mensch ist: Der Papa. Außerhalb des Hauses heißt er Herr Bantelmann. Drinnen natürlich: Papa; und nur ganz selten: Wolfgang. Der Mensch war nicht immer der Papa. Darauf legt er besonderen Wert und davon erzählt er ziemlich oft. Konrad weiß Bescheid. 31 Jahre lang war der Papa unter anderem Sohn und Segelflugzeugmodellbauer, er war Führerscheinbesitzer und Bartträger und später war er auch der junge Geliebte des anderen Menschen, der jetzt neben ihm im großen Bett liegt. Erst seit zehn Jahren ist er der Papa; und obwohl zehn Jahre eine ziemlich lange Zeit sind, hat sich der Papa noch immer nicht so ganz ans Papa-Sein gewöhnt. Am allerwenigsten gewöhnt ans Papa-Sein ist er aber sonntagmorgens um sechs Uhr acht. Und genau das sagt er jetzt auch. Man kann es ganz gut verstehen, obwohl er die Decke über dem Kopf hat.
Dass es sechs Uhr acht ist, sieht der Papa vermutlich durch einen kleinen Schlitz, den er zwischen Matratze und Decke gelassen hat, damit er noch Luft kriegt. Sechs Uhr acht steht in roten Zahlen auf der Leuchtanzeige des Digitalweckers. »Konrad«, sagt der Papa unter der Decke, »was hab ich dir verboten? «
Konrad denkt. Verboten, verboten? Der Papa hat schon alles Mögliche verboten.
Wie soll man da wissen, was davon er gerade meint. Zum Glück bekommt Konrad etwas Hilfe. Sie kommt von dem Menschen, der neben Papa im Bett liegt und einmal seine junge Geliebte war. Der Mensch ist: Die Mama. Außerhalb des Hauses: Frau Bantelmann. Drinnen natürlich: Mama; gelegentlich: Edith.
»Es hat mit dem Reinkommen zu tun«, sagt sie.
O ja, natürlich! Sofort ist Konrad im Bilde. Wie hat er das vergessen können! Es gibt ja ein besonders scharfes Verbot, das sich aufs Sonntagsmorgens-Reinkommen bezieht. Man soll nämlich, man soll nämlich – jetzt nur keinen Fehler machen! – Man soll nämlich am Sonntagmorgen nicht vor, nicht vor – ja, man soll nicht vor einer bestimmten Uhrzeit reinkommen. Leider fällt Konrad diese Uhrzeit jetzt nicht ein. Das ist dumm. Und um keinen Fehler zu machen, sagt er sicherheitshalber gar nichts.
Zum Glück hilft die Mama wieder. »Wie spät ist es jetzt? «, sagt sie. Und sie sagt es in einem vorwurfsvollen Ton. Konrad begreift. Vermutlich ist er also zu früh reingekommen. Das heißt, die Uhrzeit auf dem Digitalwecker könnte einen Hinweis darauf geben, zu welcher Uhrzeit man noch nicht reinkommen darf. Konrad schaut zur Uhr. »Sechs Uhr neun« sagt er. Das ist wenigstens nicht falsch. »Großartig«, sagt der Papa unter der Bettdecke. Es klingt wie ein sehr böses Wort. »Und was haben wir dir verboten? «
Schlagartig kann Konrad sich erinnern. »Ich soll sonntags nicht vor acht Uhr reinkommen. Ausnahme im Notfall, bei schwerer Krankheit oder bei Feuer.« Na, das war doch gekonnt!
»Übrigens-«, sagt Konrad
Doch da heult der Papa auf. »Und was sollst du außerdem nicht? «
Prompt fällt Konrad noch eine Kleinigkeit ein. Man soll, wenn das eben möglich ist, am Sonntagmorgen nicht vor acht Uhr reinkommen und man soll, wenn man dann reinkommt, auf absolut überhaupt gar keinen Fall und nie und niemals seinen ersten Satz mit übrigens anfangen!
Der Papa hat es erklärt. Es hat es sogar mehrmals e erklärt. Zuletzt am vergangenen Sonntag. Es war ziemlich genau um die gleiche Uhrzeit und Konrad war gerade reingekommen.
Das Wort übrigens, hat der Papa da gesagt, ist ein Wort, mit dem man bei einem Gespräch ein neues Thema an ein altes Thema anknüpft. Er hat es auch gezeigt, das Anknüpfen, mit beiden Händen.
Konrad hat das verstanden. Übrigens ist ein Knotenwort. Man nimmt es wie eine Schnur und knotet zwei Gesprächsthemen zusammen, damit sie nicht auseinanderfallen.
»Richtig«, hat der Papa gesagt. Allerdings folge daraus messerscharf, dass man mit übrigens kein Gespräch anfangen könne. Für ein übrigens braucht man ja mindestens zwei Gesprächsthemen. Zwei! Und am Sonntagmorgen um sechs Uhr soundsoviel, da gibt es noch nicht einmal ein einziges Thema.
An dieser Stelle der Erklärung ist der Papa dann ein bisschen laut geworden, obwohl es doch so früh war. »Kein Thema! «, hat er gesagt. Es gibt kein Thema, weil er, der Papa, sich überhaupt nicht in einem Gespräch, sondern vielmehr in einem Schlaf befindet! Und wenn einer der beiden zukünftigen Gesprächspartner sich noch in einem Schlaf befindet, dann muss der andere Gesprächspartner darauf verdammt noch mal Rücksicht nehmen und darf auf gar keinen Fall mit so einem dicken, fetten, hässlichen übrigens ins Zimmer platzen.
Sie haben es dann am letzten Sonntag geübt: das Um-acht-Uhr-Reinkommen-und-ein-Gespräch-Beginnen. Bis es klappte. O je! Jetzt hat Konrad so eine Ahnung. Und er ahnt ganz richtig.
»Raus und noch mal reinkommen! «, sagt der Papa unter der Decke.
»Muss das sein? «, sagt die Mama. Die Mama hat ein weiches Herz. Das wird immer wieder festgestellt.
»Okay«, sagt der Papa unter der Decke, »du hast ein weiches Herz. Einverstanden. Aber wer beschwert sich immer darüber, wenn er nicht ausschlafen kann? Du oder ich?«
Das ist jetzt, was der Papa immer eine rhetorische Frage nennt. Rhetorische Fragen sind Fragen, auf die man nicht antworten muss, weil die Antwort feststeht. Und da die Mama trotz ihres weichen Herzens wirklich sehr sauer wird, wenn sie nicht ausschlafen kann, muss sie jetzt nicht antworten.
Rhetorische Fragen, denkt Konrad, sind etwas sehr Praktisches. Leider fallen den Eltern viel mehr davon ein als ihm selbst. Und leider macht ihm die Mama jetzt ein Zeichen, das tatsächlich bedeutet: Rausgehen und noch mal reinkommen.

http://www.goethe.de/ins/br/lp/prj/dgb/gwl/kuj/spi/de9663620.html

Belgische Riesen
Roman - 1. Aufl. Frankfurt am Main: Schöffling, 2000 - 291 Seiten
ISBN: 3-89561-034-8

   
 
   
 
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