Konrad kommt rein
Die Tür geht auf.
»Übrigens«, sagt Konrad, »draußen ist
es total hell. «
Im Schlafzimmer ist es jetzt auch ziemlich hell, weil Licht vom Flur
hereinkommt, und daher kann Konrad sehr gut beobachten, wie einer
der beiden Menschen, die in dem großen Bett liegen, sich blitzschnell
die Decke über den Kopf zieht. Dabei sagt dieser Mensch etwas
Unanständiges, das Konrad niemals sagen dürfte.
Dieser Mensch ist: Der Papa. Außerhalb des Hauses heißt
er Herr Bantelmann. Drinnen natürlich: Papa; und nur ganz selten:
Wolfgang. Der Mensch war nicht immer der Papa. Darauf legt er besonderen
Wert und davon erzählt er ziemlich oft. Konrad weiß Bescheid.
31 Jahre lang war der Papa unter anderem Sohn und Segelflugzeugmodellbauer,
er war Führerscheinbesitzer und Bartträger und später
war er auch der junge Geliebte des anderen Menschen, der jetzt neben
ihm im großen Bett liegt. Erst seit zehn Jahren ist er der Papa;
und obwohl zehn Jahre eine ziemlich lange Zeit sind, hat sich der
Papa noch immer nicht so ganz ans Papa-Sein gewöhnt. Am allerwenigsten
gewöhnt ans Papa-Sein ist er aber sonntagmorgens um sechs Uhr
acht. Und genau das sagt er jetzt auch. Man kann es ganz gut verstehen,
obwohl er die Decke über dem Kopf hat.
Dass es sechs Uhr acht ist, sieht der Papa vermutlich durch einen
kleinen Schlitz, den er zwischen Matratze und Decke gelassen hat,
damit er noch Luft kriegt. Sechs Uhr acht steht in roten Zahlen auf
der Leuchtanzeige des Digitalweckers. »Konrad«, sagt der
Papa unter der Decke, »was hab ich dir verboten? «
Konrad denkt. Verboten, verboten? Der Papa hat schon alles Mögliche
verboten.
Wie soll man da wissen, was davon er gerade meint. Zum Glück
bekommt Konrad etwas Hilfe. Sie kommt von dem Menschen, der neben
Papa im Bett liegt und einmal seine junge Geliebte war. Der Mensch
ist: Die Mama. Außerhalb des Hauses: Frau Bantelmann. Drinnen
natürlich: Mama; gelegentlich: Edith.
»Es hat mit dem Reinkommen zu tun«, sagt sie.
O ja, natürlich! Sofort ist Konrad im Bilde. Wie hat er das vergessen
können! Es gibt ja ein besonders scharfes Verbot, das sich aufs
Sonntagsmorgens-Reinkommen bezieht. Man soll nämlich, man soll
nämlich – jetzt nur keinen Fehler machen! – Man soll
nämlich am Sonntagmorgen nicht vor, nicht vor – ja, man
soll nicht vor einer bestimmten Uhrzeit reinkommen. Leider fällt
Konrad diese Uhrzeit jetzt nicht ein. Das ist dumm. Und um keinen
Fehler zu machen, sagt er sicherheitshalber gar nichts.
Zum Glück hilft die Mama wieder. »Wie spät ist es
jetzt? «, sagt sie. Und sie sagt es in einem vorwurfsvollen
Ton. Konrad begreift. Vermutlich ist er also zu früh reingekommen.
Das heißt, die Uhrzeit auf dem Digitalwecker könnte einen
Hinweis darauf geben, zu welcher Uhrzeit man noch nicht reinkommen
darf. Konrad schaut zur Uhr. »Sechs Uhr neun« sagt er.
Das ist wenigstens nicht falsch. »Großartig«, sagt
der Papa unter der Bettdecke. Es klingt wie ein sehr böses Wort.
»Und was haben wir dir verboten? «
Schlagartig kann Konrad sich erinnern. »Ich soll sonntags nicht
vor acht Uhr reinkommen. Ausnahme im Notfall, bei schwerer Krankheit
oder bei Feuer.« Na, das war doch gekonnt!
»Übrigens-«, sagt Konrad
Doch da heult der Papa auf. »Und was sollst du außerdem
nicht? «
Prompt fällt Konrad noch eine Kleinigkeit ein. Man soll, wenn
das eben möglich ist, am Sonntagmorgen nicht vor acht Uhr reinkommen
und man soll, wenn man dann reinkommt, auf absolut überhaupt
gar keinen Fall und nie und niemals seinen ersten Satz mit übrigens
anfangen!
Der Papa hat es erklärt. Es hat es sogar mehrmals e erklärt.
Zuletzt am vergangenen Sonntag. Es war ziemlich genau um die gleiche
Uhrzeit und Konrad war gerade reingekommen.
Das Wort übrigens, hat der Papa da gesagt, ist ein Wort, mit
dem man bei einem Gespräch ein neues Thema an ein altes Thema
anknüpft. Er hat es auch gezeigt, das Anknüpfen, mit beiden
Händen.
Konrad hat das verstanden. Übrigens ist ein Knotenwort. Man nimmt
es wie eine Schnur und knotet zwei Gesprächsthemen zusammen,
damit sie nicht auseinanderfallen.
»Richtig«, hat der Papa gesagt. Allerdings folge daraus
messerscharf, dass man mit übrigens kein Gespräch anfangen
könne. Für ein übrigens braucht man ja mindestens zwei
Gesprächsthemen. Zwei! Und am Sonntagmorgen um sechs Uhr soundsoviel,
da gibt es noch nicht einmal ein einziges Thema.
An dieser Stelle der Erklärung ist der Papa dann ein bisschen
laut geworden, obwohl es doch so früh war. »Kein Thema!
«, hat er gesagt. Es gibt kein Thema, weil er, der Papa, sich
überhaupt nicht in einem Gespräch, sondern vielmehr in einem
Schlaf befindet! Und wenn einer der beiden zukünftigen Gesprächspartner
sich noch in einem Schlaf befindet, dann muss der andere Gesprächspartner
darauf verdammt noch mal Rücksicht nehmen und darf auf gar keinen
Fall mit so einem dicken, fetten, hässlichen übrigens ins
Zimmer platzen.
Sie haben es dann am letzten Sonntag geübt: das Um-acht-Uhr-Reinkommen-und-ein-Gespräch-Beginnen.
Bis es klappte. O je! Jetzt hat Konrad so eine Ahnung. Und er ahnt
ganz richtig.
»Raus und noch mal reinkommen! «, sagt der Papa unter
der Decke.
»Muss das sein? «, sagt die Mama. Die Mama hat ein weiches
Herz. Das wird immer wieder festgestellt.
»Okay«, sagt der Papa unter der Decke, »du hast
ein weiches Herz. Einverstanden. Aber wer beschwert sich immer darüber,
wenn er nicht ausschlafen kann? Du oder ich?«
Das ist jetzt, was der Papa immer eine rhetorische Frage nennt. Rhetorische
Fragen sind Fragen, auf die man nicht antworten muss, weil die Antwort
feststeht. Und da die Mama trotz ihres weichen Herzens wirklich sehr
sauer wird, wenn sie nicht ausschlafen kann, muss sie jetzt nicht
antworten.
Rhetorische Fragen, denkt Konrad, sind etwas sehr Praktisches. Leider
fallen den Eltern viel mehr davon ein als ihm selbst. Und leider macht
ihm die Mama jetzt ein Zeichen, das tatsächlich bedeutet: Rausgehen
und noch mal reinkommen.
http://www.goethe.de/ins/br/lp/prj/dgb/gwl/kuj/spi/de9663620.html
Belgische Riesen
Roman - 1. Aufl. Frankfurt am Main: Schöffling, 2000 - 291 Seiten
ISBN: 3-89561-034-8