Eine wintermüde Mücke mit Hunger auf Frühling
war der Anfang davon, dass sich mein Leben auf einen neuen Weg machte.
"He! Mach sie wieder dran!", rief Alina empört.
Wir spielten auf dem Schulhof im Sandkasten und ich hatte die Mücke
von ihrem kleinen Arm verjagt. Ein Reflex. Aber mit ihren neun Jahren
sah Alina die Mücke nicht als böses Wesen an, das ihr etwas
wegnehmen wollte. Über späteres Jucken dachte sie nicht
nach, nicht in diesem sonnigen Frühlingsmoment, in dem sich ein
Besucher mit glänzenden Flügeln vertrauensvoll auf ihrer
Haut niedergelassen hatte. Sie hatte nicht viele Freunde.
Doch die Mücke war, noch kälteträge, in den silberblauen
Himmel geflogen.
Im letzten Jahr war Alina schwer krank gewesen, und nun war sie noch
angeschlagen und eben ein wenig anders. Ich betreute sie als Schulhelferin,
ging mit ihr in den Unterricht um ihr beizustehen, wenn es ihr nicht
gutging oder sie etwas nicht verstand. Wenn die anderen Sport trieben,
spielten wir unsere eigenen Spiele oder machten Hausaufgaben. Ich
war zwanzig Jahre älter und hatte einen Abschluss in Pädagogik,
aber manchmal fragte ich mich, wer wem mehr beibrachte. Sie hatte
gelegentlich eine ungewöhnliche Art, die Dinge zu betrachten.
Mücken zumindest würde ich in Zukunft anders sehen.
Alina war mein Vormittagskind. Nachmittags gab ich Tim und Benny aus
einer anderen Schule Nachhilfe. An diesem Freitag hatte ich noch eine
Lehrerkonferenz, und als ich endlich auf dem Heimweg war, dämmerte
es schon. Das ist meine liebste Tageszeit: wenn die Luft seltsam still
und glasklar wird und die ersten Lampen aufblinzeln. Der April war
voller Frühlingsversprechen. Die Amseln ließen Abendtöne
aus den Baumsilhouetten rieseln und es duftete nach Veilchen. Mich
erfüllte das unbestimmte Gefühl, es könnte ein bedeutsamer
Sommer werden. Nur, war das nicht immer so im Frühling?
Nein. Irgendetwas lag in der Luft, da war ich mir sicher. Ahnungen
trieben sich mit dem aufkommenden weichen Abendnebel herum. Es war
wie ein Flüstern in der Welt: der Wind, die Schritte der Vorübergehenden,
mein eigener Atem, alles schien mir etwas sagen zu wollen. Möglicherweise
wünschte ich mir auch nur, dass sich etwas änderte. Dieser
Sommer würde meinen dreißigsten Geburtstag enthalten. Ein
guter Zeitpunkt für neue Wege; vielleicht sogar ein überfälliger.
Die alte Frau Zepke aus der Nachbarwohnung hatte wieder einmal ihren
Papierkorb vor der Tür vergessen. Oben drin steckte die Tageszeitung.
Ich nahm sie mit, wegen des Anzeigenteils. Ich brauchte dringend mehr
Nachhilfeschüler!
Bei einem Tee blätterte ich die Zeitung durch. Nachhilfe wurde
nur in Mathematik gesucht. Die hätte ich selbst nötig gehabt.
Ich wollte die Seiten schon zusammenfalten, da fiel mir, zwischen
die Annoncen einer Fahrschule und eines Beerdigungsinstitutes gequetscht,
eine kleine, unscheinbare Kontaktanzeige ins Auge: "Ich bin Rollstuhlfahrer.
Wenn du Mut hast, melde dich!" Ein fünfundvierzigjähriger
Mann, der nicht länger allein sein wollte; es standen noch ein
paar andere, nicht weiter außergewöhnliche Worte dabei,
dieser Satz jedoch war es, der mir ungewollt im Gedächtnis blieb.
Ich warf die Zeitung weg, kehrte die Krümel vom Tisch, die Apfelsinenschalen
vom Küchenbrett und kippte beides obendrauf, saugte Staub, räumte
meinen Schreibtisch auf und sah die Post durch. Die ganze Zeit flatterte
der Satz in meinem Kopf herum wie ein unruhiger Käfigvogel, was
mich irritierte. Schließlich las ich normalerweise keine Kontaktanzeigen.
Anthony genügte mir voll und ganz, auch wenn das keine Zukunft
hatte. Für uns galt eine ganz besondere Gegenwart, die zählte.
Doch selbst beim Abendbrot war mir, als kaute ich auf diesem Satz
herum. Mut! Zum Lieben ist Mut immer eine Voraussetzung. Aber wieso
sollte man mehr Mut brauchen, um einen Rollstuhlfahrer zu lieben?
Ich war nicht nur irritiert, ich ärgerte mich, ohne zu wissen
warum. Selbst nach einer heißen Dusche und den Fernsehnachrichten
fand ich keine Ruhe. Mein Ärger hatte sich mittlerweile in meinem
Bauch zu einer festen kleinen Wut geballt. Ja, das ging so weit, dass
ich mir einbildete, eine deutliche Stimme zu hören: "Schreib
ihm das!" Ich hatte noch nie Stimmen gehört, und Fieber
hatte ich auch nicht. Irgendwas musste ich unternehmen. Kopfschüttelnd
grub ich die Zeitung aus dem Papierkorb. Sie war matschig und roch
nach Apfelsinen und Kaffeesatz. Fast hätte ich die kleine Anzeige
nicht wiedergefunden, doch schließlich entzifferte ich die Chiffre,
notierte sie auf einen Briefumschlag und setzte mich leise schimpfend
wieder an den Schreibtisch. Normalerweise wäre mir nicht im Traum
eingefallen, auf eine Kontaktanzeige zu antworten. Ich genierte mich
vor mir selbst und war schon fast wieder auf dem Weg zum Papierkorb,
als mir Alina und die Mücke einfielen. Vielleicht musste auch
ich einfach mal umdenken: nicht mit einem Reflex alles verscheuchen,
was mich irritierte, sondern erst näher betrachten, was mich
da angeflogen hatte.
Also schrieb ich ein paar deutliche Zeilen auf einen schmucklosen
Notizzettel: dass ich es als eine Unterstellung betrachtete, dass
man mehr Mut für eine Beziehung mit einem Rollstuhlfahrer bräuchte
als für eine mit einem Mann mit zwei gebrauchsfähigen Beinen.
Damit es nicht ganz so schroff klang, fügte ich noch ein oder
zwei Sätze über mich an. Beim Suchen nach einer Briefmarke
fiel mir ein Locher in die Hand, den ich zu Weihnachten bekommen hatte.
Mit ihm konnte man schmetterlingsförmige Löcher stanzen.
Ich hatte ihn noch nie ausprobiert, aber nun stanzte ich, einem Impuls
folgend, ein solches Loch in den Briefumschlag. Als ich meinen Zettel
hineinsteckte, lugte das Wort "Mut" hindurch. Ich hoffte,
die deutsche Post würde das durchgehen lassen.
Erst legte ich den Brief in den Flur. Morgen auf dem Weg zur Arbeit
kam ich sowieso am Briefkasten vorbei. Aber dann überlegte ich
es mir anders. Ich brauchte dringend noch einmal frische Luft, und
es waren ja nur ein paar hundert Meter. In dem Moment, als ich das
Kuvert in den Kasten plumpsen hörte, ging es mir besser. In meinem
Bauch stiftete kein Ärger mehr Unruhe, sondern der Appetit auf
ein Brötchen mit Quittengelee. Und in meinem Kopf war die Stimme
verstummt. Ich hörte sie übrigens nie wieder.
Auf dem Rückweg entdeckte ich das Sternbild Schwan zum ersten
Mal in diesem Jahr, gerade über dem Horizont. Der Schwan ist
ein Sommersternbild. Als kleines Mädchen haftete dieses als Erstes
in meinem Gedächtnis. Der Schwan wurde zu meinem Glücksbringer,
meinem himmlischen Freund; es beruhigte mich, wenn ich ihn mit seinen
ausgebreiteten Flügeln über mir schweigend in dem erschreckend
weiten, schwarzen Himmel fliegen sah. Fünfundzwanzig Jahre später
mochte ich ihn immer noch. Schön, dass er wieder da war. Das
musste ich unbedingt Anthony erzählen.
Denn ich wusste nicht, wie lange ich Anthony überhaupt noch etwas
würde erzählen können.