Am Kalten Stein
Inzwischen war der Wald noch dichter geworden. Die Bäume standen
jetzt eng beieinander. Mehrmals war Max schon an Ästen hängengeblieben
und hatte sich die Haut aufgekratzt. Kreuz und quer liegende umgestürzte
Bäume erschwerten es ihm, die Richtung zu halten. Als er zum
zweiten Mal an dem gleichen Baumstumpf vorbeikam, musste er sich eingestehen,
sich verlaufen zu haben. Frustriert holte Max erneut den Kompass zu
Hilfe, als plötzlich ein lautes Knacken die Stille des Waldes
durchbrach. Max hielt den Atem an und sah sich um. Hatte sich da nicht
eben ein Schatten bewegt? Schnell wischte Max den Gedanken beiseite.
Irgendwie sah er zurzeit überall unheimliche Schatten. Seit gestern
spielte ihm seine Fantasie diesen Streich.
Reiß dich zusammen! befahl sich Max und lief weiter. Er zwang
sich, nicht zu rennen, obwohl ihm danach war. Nur zur Sicherheit suchte
er den Boden nach einer brauchbaren Waffe ab. Der Ast einer umgestürzten
Eiche schien geeignet. Mit seinem Taschenmesser schnitt er ihn auf
die richtige Länge. Wie einen Baseballschläger schwang Max
den Prügel durch die Luft. Es fühlte sich erstaunlich gut
an. Erleichtert machte er sich wieder auf die Suche nach einem Weg.
Doch kaum hatte Max seine Angst vergessen, fuhr ihm ein noch größerer
Schreck in sämtliche Glieder. Wie aus dem Nichts war ein riesiger
schwarzer Hund aus dem Unterholz aufgetaucht und stellte sich ihm
in den Weg. Sein Fell war struppig und ungepflegt, seine Augen schienen
förmlich zu glühen. Ein Bild aus seinem Lateinbuch fiel
ihm ein. Cerberus, der Höllenhund! Ohne nachzudenken und panisch
vor Angst warf Max den Stock nach dem Tier. Wie durch Zufall traf
er die Bestie. Der Hund jaulte auf und lief davon. Bewegungslos blieb
Max stehen. Er war unfähig, auch nur einen Fuß vor den
anderen zu setzen. Wie lange er so dastand, wusste er nicht, aber
irgendwann kam ihm der schreckliche Gedanke, dass dieser Höllenhund
ja zurückkommen könnte. Ohne auf die Richtung zu achten,
rannte Max los. Einfach nur weg von hier. Raus aus dem Wald. Zahlreiche
Zweige peitschten ihm gegen Arme und Beine, aber er spürte sie
kaum. Das Unterholz wurde immer dichter und Max immer verzweifelter,
bis er schließlich schweißgebadet auf einem unbefestigten
Fahrweg herauskam. Er konnte sein Glück kaum fassen. Ob ihn der
Weg zu dem Gedenkstein führen würde, war ihm inzwischen
völlig egal. Hauptsache, er kam heil aus diesem schrecklichen
Wald heraus.
Nach nur wenigen Metern blieb Max erneut stehen. Vor ihm stand das
Denkmal. Es war in Wirklichkeit ein Kreuz, ganz aus grauem Sandstein
geschlagen. An den Kanten war er bereits abgestoßen und die
Fläche mit Flechten und Moosen bewachsen. Zu seinem Fuß
lag ein verwelkter Blumenstrauß. Max bekam eine Gänsehaut.
Ehrfürchtig ging er hinüber und kniete sich hin. Fast zärtlich
berührte er die Inschrift. Die tief in den Stein gemeißelten
Buchstaben waren schwer zu entziffern. Max kramte sein Messer heraus
und entfernte die Flechten und Moose. Mit dem Finger fuhr er über
jeden einzelnen Buchstaben.
ANNO 1649 DEN 17. JULI, konnte er entziffern. Dann wurde es schwieriger.
Irgendwas mit JEMMERLICH und UMGEBRACHT stand da. Außerdem erkannte
er den Namen FRIEDERIKE VON HOHENSTEIN wieder.
»Was machst du da?«
Max ließ vor Schreck sein Messer fallen. Entsetzt drehte er
sich um. Hinter ihm stand Fritzi mit ihrem Fahrrad und sah ihn neugierig
an.
»Wie kommt es, dass du immer im ungelegensten Moment auftauchst?
Spionierst du mir nach?«
»Nein!«, meinte Fritzi ungerührt. »Normalerweise
bin ich immer sonntags hier, aber morgen habe ich keine Zeit. Wir
bekommen Besuch.« Fritzi sah ihn merkwürdig an. Dann stellte
sie das Fahrrad ab und griff nach einem kleinen Blumenstrauß,
der im Fahrradkorb lag.
»Es ist Brauch in unserer Familie, jede Woche für Friederike
Blumen hinzulegen. Das machen wir nun schon seit Generationen so.
Im Winter ist es dann ein Kranz, den immer die Rehe fressen.«
»Was hat deine Familie mit dem verschwundenen Mädchen zu
tun?« Max war jetzt neugierig geworden.
»Du kannst manchmal wirklich dumme Fragen stellen. Macht es
bei dir nicht klick, wenn du den Namen hörst? Friederike von
Hohenstein?« Sie deutete erst auf das Kreuz, dann auf sich.
»Wir haben beide denselben Namen. Sie ist meine Ururururgroßtante
oder so. Ich heiße nicht nur wie sie, sondern sehe ihr sogar
ähnlich. Ein Bild von Friederike hängt bei uns im Schloss.«
Max sah sie sprachlos an.
…..